VW-Abgasaffäre: Kritik ohne Maß? Steckt mehr dahinter?
Vor 10 Tagen wurde bekannt, dass Volkswagen bei den Abgaswerten seiner Dieselfahrzeuge geschummelt hat. Das ist nicht akzeptabel, musste und muss Konsequenzen haben. Darin sind sich die Beobachter einig. Doch Experten mit globalem Blick, warnen vor einem Aufbauschen. Börsenprofi Dirk Müller: Wir reden über "geschönte Abgaswerte" nicht etwa "über versagende Bremssysteme" [1]. Sind die Kritiker ohne Maß, vor allem mit Blick auf ähnliche Fälle? Wie kommt es zu Dynamik und Ausmaß der Abgasaffäre? Steckt mehr dahinter als geahnt?
Ein Vergleich vorweg
Bei General Motors führten defekte Zündschlösser zu 124 Todesfällen und einer Strafe von 900 Millionen Euro. Bei Volkswagen sind bereits 18 Milliarden Euro Strafe im Gespräch. Das 20-Fache. Für gefälschte Abgaswerte.
Kaum ein Fahrzeughersteller hält Benzinverbrauchswerte ein
Der als "Mr. Dax" bekannt gewordenen Börsenexperte und Buchautor Dirk Müller gibt einen weiteren Vergleich, um die Abgasaffäre einzuordnen: Die Benzinverbrauchswerte. Kaum ein Autohersteller würde die angegebenen Werte "im alltäglichen Gebrauch einhalten können".
Das wäre natürlich ebenso wenig akzeptabel, denn auch hier würden mehr Abgase in die Umwelt gelangen als angegeben, zumal jeder Fahrzeugbesitzer beim Fahren mehr tankt und mehr zahlt als geplant. Der Schaden wäre für den Kunden sogar viel greifbarer. Dirk Müller sieht hier die viel größere Mogelei gegenüber Umwelt und Käufern sowohl von Volkswagen, als auch von vielen anderen Fahrzeugherstellern.
Wirtschaftsforscher: es wird "mit zweierlei Maß gemessen"
Auch Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, sieht in der Abgasaffäre mit zweierlei Maß gemessen. Er hält die Kritik für überzogen. In den USA würden die Behörden nichts gegen die "Stickoxid-Schleuderei der eigenen Trucks" haben, allerdings hätten sie seit Jahrzehnten versucht "die kleinen und effizienten Dieselmotoren für Pkw durch immer weiter verschärfte Stickoxid-Grenzen vom Markt fernzuhalten, weil man selbst die Technologie nicht beherrschte", so der Präsident des Münchner Institut für Wirtschaftsforschung.
Prof. Sinn hat ebenfalls einen weiteren Vergleich für ein gängiges Fehlverhalten mit ebenfalls schlimmeren Auswirkungen parat: In der Finanzindustrie. Dort würden Investment-Fonds-Portfolios teils speziell für bessere Bewertungen programmiert. Im Alltagsbetrieb würden diese sich dann jedoch als "Geldvernichtungsmaschinen" erweisen. Er fragt "Wo ist die europäische Verbraucherschutzbehörde, wo sind die Sammelklagen, die die Hersteller der betrügerischen ABS-Papiere aus Amerika mit Forderungen von Dutzenden von Milliarden Euro überschütten?" [2].
Weltpolizist im eigenen Interesse?
Eine Doppelmoral beim Vorgehen der Behörden aus den USA, die "auch in der Wirtschaft Weltpolizist" spielen, deutet auch die Süddeutsche Zeitung an. Nicht nur, das die USA nach China der zweitgrößter Klimasünder der Erde sind, sondern es schwinge immer der Verdacht mit, das "das harte Vorgehen auch zum Schutz der eigenen Wirtschaft" in den USA eingesetzt werden könnte.
Der Autor: "Bleiben die oft intimen Kenntnisse der US-Ermittler, die diese beim Durchforsten der Unternehmen gewinnen, wirklich geheim oder kann die US-Wirtschaft profitieren? Landen vertrauliche VW-Daten bei der US-Konkurrenz?" [3].
Der Verdacht, dass US-Behörden zusätzliche Interessen, als die vorgegebenen verfolgen, wurde gerade erst im Frühjahr deutlich, als neue Hinweise zum US-Geheimdienst NSA bekannt wurden. Demnach würde der US-Geheimdienst in Europa mutmaßlich nicht nur Bürger und Politiker aushorchen, sondern auch Industriespionage betreiben, unter anderem bei Airbus [4].
Wirtschaftskrieg?
ARD-Börsenprofi Anja Kohl ist ebenfalls gewohnt politische und wirtschaftliche Verbindungen zu erkennen. Die studierte Publizistik- und Politikwissenschaftlerin denkt über Manipulation von Volkswagen hinaus. Angesichts des Absatzerfolges der VW-Dieselfahrzeuge in den USA [5] und einer aktuell schwierigen Weltwirtschaftslage, in welcher die Länder an das Ende ihrer Wachstumsstrategie kommen, fragt sie in einer ARD-Sendung, ob jemand ein Interesse daran habe, das Ende der Dieseltechnologie herbeizuführen und die Fahrzeugindustrie in Deutschland zu schwächen. Sie stellt zur Diskussion inwiefern wir bereits einen Krieg "über die Wirtschaft mit anderen Mitteln führen" und solche Affären "ein Mosaiksteinchen" in der Strategie einzelner Länder seien [6].
Zufall oder Timing?
Der Moment des Bekanntwerdens der Manipulation durch Volkswagen, hätte für den VW-Konzern zumindest nicht ungünstiger sein können. Volkswagen hatte gerade sein neues Motorenwerk in Russland eröffnet, die internationale Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt begann und in den USA wollte Volkswagen seinen neuen Passat vorstellen, der General Motors und und Ford in den nächsten Jahren Marktanteile abnehmen sollte [1][7]. Die Süddeutsche Zeitung findet den Zeitpunkt, an dem die US-Umweltbehörde Epa "den Skandal ins Rollen brachte" zumindest "auffällig" [3].
Zwei Tage späte erfolgte zudem der nächste mediale Paukenschlag: Volkswagen soll auch wegen seines Verhaltens in der Brasilianischen Militärdiktatur in den Jahren 1964 bis 1985 verklagt werden [8].
Dirk Müller zum Gesamt-Timing: "Man scheint diese zweifellos unschöne Situation zumindest nun brutalstmöglich ausnutzen zu wollen. Ein frontaler Angriff auf die bisher übermächtige deutsche Automobilindustrie, das Herz der deutschen Wirtschaft, ist die Folge" [1].
Berichterstattung mit Gefahr zu Skandalisierung
Dem erstaunlichen Zeitpunkt der Veröffentlichung ist auch eine erstaunliche Dynamik in der Berichterstattung gefolgt. Allein Spiegel Online hat innerhalb von 10 Tagen bereits 77 Artikel zur Abgasaffäre produziert [9]. Ob Berichte wie "Die Trickser aus Wolfsburg", "Deutsche Manipulationskunst" und "Versiert und verlässlich? Das war mal" überhaupt neue Erkenntnisse bringen oder eher zu einer Skandalisierung beitragen, mag dahingestellt sein.
Schlag für die gesamte Autobranche
Mit der Abgasaffäre hat Europas größter Autokonzern einen schweren Schlag bekommen. Innerhalb von wenigen Tagen ist der Vorstandsvorsitzende zurückgetreten. Es könnte sein, dass Volkswagen 11 Millionen Fahrzeuge zurückrufen muss. Der neue Chef Matthias Müller spricht von "der 'größten Bewährungsprobe' der Unternehmensgeschichte" [10].
Aber nicht nur die "Ikone des Wirtschaftswunders" ist betroffen, sondern die ganze Branche. Innerhalb der ersten drei Tage der Affäre haben die deutschen Autohersteller 50 Milliarden Euro an Börsenwert verloren.
Was drohen könnte, deutet "Die Welt" an: Der Computerkonzern Apple könnte einen deutschen Autobauer "aus der Portokasse" bezahlen. Seit Jahren überlege man bei Apple "wie man die riesigen Bargeldreserven sinnvoll investieren kann". Erst kürzlich habe Apple bekanntgegeben, "mit voller Kraft ins automobile Geschäft" einzusteigen. Mit einer feindlichen Übernahme, hätte Apple "mit einem Schlag (…) Zugang zum gesamten automobilen Know-how (..) und das auch noch global" [11].
Was derzeit bleibt
Volkswagen hilft das aktuell nicht. Manipuliert ist manipuliert. Ohne dies hätte es keinen Skandal gegeben. Der Konzern muss sich läutern. Nur sollten gleiche Regeln für alle gelten und Kritik mit Maß geübt werden. Dirk Müller: "Lassen wir die Kirche im Dorf und helfen wir den Mitbewerbern jenseits des Atlantiks nicht noch dabei, unsere eigene Wirtschaft in den Boden zu stampfen." [1]
Quellen
[1] Wem nutzt das Volkswagen-Bashing?"Mr. Dax": VW-Skandal ist überzogen
http://www.n-tv.de/wirtschaft/Mr-Dax-Volkswagen-Skandal-ist-gar-keiner-article16002516.html
[2] Ifo-Chef Sinn zur Abgasaffäre: „Bei VW wird mit zweierlei Maß gemessen“
http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ifo-chef-sinn-zur-abgasaffaere-bei-vw-wird-mit-zweierlei-mass-gemessen/v_detail_tab_print/12370064.html
[3] USA spielen auch in der Wirtschaft Weltpolizist
http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kommentar-weltpolizist-aus-usa-1.2662847
[4] Verdacht auf Industriespionage
http://www.n-tv.de/politik/Airbus-stellt-Anzeige-im-BND-Skandal-article15018321.html
[5] Absatz gestiegen: VW treibt Diesel in USA voran
http://www.automobilwoche.de/article/20131008/NACHRICHTEN/131009962/absatz-gestiegen-vw-treibt-diesel-in-usa-voran
[6] Der VW-Betrug – steht „Made in Germany“ auf dem Spiel?
http://mediathek.daserste.de/G%C3%BCnther-Jauch/Der-VW-Betrug-steht-Made-in-Germany-/Das-Erste/Video?documentId=30805532&topRessort&bcastId=8109878
[7] Trotz Krise: VW eröffnet Motorenwerk im russischen Kaluga
http://www.automobil-produktion.de/2015/09/trotz-krise-vw-eroeffnet-motorenwerk-im-russischen-kaluga/
[8] US-Anwaltskanzlei soll es richten
http://www.taz.de/!5235482/
[9] Abgas-Affäre bei Volkswagen: Alle Artikel und Hintergründe
http://www.spiegel.de/thema/abgasaffaere_bei_volkswagen
[10] Abgasaffäre: VW-Chef Müller spricht von historischer Krise
http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/volkswagen-chef-mueller-sieht-konzern-in-historischer-krise-a-1055148.html
[11] Apple kann VW jetzt aus der Portokasse bezahlen
http://www.welt.de/finanzen/article146752197/Apple-kann-VW-jetzt-aus-der-Portokasse-bezahlen.html